Zuletzt aktualisiert am 12.09.2024 um 13:21 Uhr, Geschätzte Lesezeit: 4-5 Minuten
Kommen und Gehen
„Ich arbeite an einer Brennpunktschule. Zum Schuljahresbeginn bestand die Klasse aus zwölf völlig verschiedenen Flüchtlingskindern und Migranten. Mittlerweile sind es zwanzig. Es besteht eine hohe Fluktuation. Sie stehen unerwartet vor der Tür und gehen oft ohne Gruß. Manchmal sind sie nur auf der Durchreise oder werden unerwartet umgesiedelt. Ihr Alter ist nicht genau zu beziffern. Viele scheinen älter zu sein. Minderjährige sehen aus wie kleine Erwachsene. Vielleicht ist es die Folge der traumatischen Erfahrungen, die sie zum Teil auf ihrer Flucht gemacht haben. Oder die Angaben über das Alter stimmen nicht. Vielen wurde gesagt, es sei besser, wenn sie jünger seien. Dann hätten sie es leichter.
Interkulturalität im Klassenzimmer
Ich sitze vor einer völlig heterogenen Gruppe. Aus ihren anfangs ängstlichen Blicken sind vertraute Gesichter geworden. Alle sprechen jetzt etwas Deutsch auf unterschiedlichstem Niveau. Grüppchen unterhalten sich auf Arabisch, einige Schüler sind noch isoliert. Wir zelebrieren unser Begrüßungsritual. Laut und deutlich heißen wir uns willkommen. Für einen Augenblick ist es ruhig.
Es ist keine leichte Arbeit. Ich bezeichne sie als spannend, weil kein Tag nach Plan verläuft. Trotzdem plane ich. Ich nenne es geplante Improvisation. Die Heterogenität in der Klasse ist viel zu groß. Sie reicht vom Analphabeten bis zum Gymnasiasten. Kinder ohne Schulerfahrung, mit etwas Erfahrung, die aber schon lange zurückliegt. Schließlich war Krieg. Alle Kinder sollen in zwei Jahren auf ein angemessenes Sprachniveau gebracht werden. Eine Schülerin mit Inklusionsbedarf ist dabei. Es hapert mit ihrer Motorik. Die kognitiven Fähigkeiten sind äußerst begrenzt. Spielen Traumas eine Rolle? Sicher! Aber an die Eltern ist nur schwer heranzukommen. In der Familie herrschen patriarchale Strukturen. Das Verfügungsrecht des Mannes macht Hilfe unmöglich. Ein Psychologe und ein Dolmetscher sind dabei. Wir beraten am Nachmittag. In meiner Freizeit.
Adaptation
Pause. Ich habe Pausenaufsicht, eine Strafe aus Sicht meiner Kollegen. Früher waren wir zu zweit, jetzt sind vier Lehrkräfte dabei – Eine notwendige Maßnahme nach den letzten Vorfällen. Die Stimmung auf dem Schulhof ist gereizt. Verbale und physische Attacken gehören zum Normalbild. Wir können nur Schlimmeres verhindern, laufen Gefahr, mit in die Geschehnisse hineingezogen zu werden. Respekt vor den Lehrern gibt es im Gemenge nicht. Das machen Mittelfinger, Pöbeleien und Lügen als Antworten deutlich. Und die Kinder gleichen sich untereinander an. Aus der einst schüchternen muslimischen Schülerin ist nach Monaten eine Rebellin mit frechen Antworten und schockierenden Gesten geworden. „Anpassung“ heißt das auf Deutsch oder „die Freiheit, die ihr mich lehrt“.
Personalfrage
Es fehlt der Sozialpädagoge, der sich mit den Kindern auseinandersetzt, wenn gar nichts mehr geht. Der ihnen erklärt, dass Respekt nicht nur ein geflügelter Begriff unter Jugendlichen ist. Dass es in Deutschland auch so etwas wie Respekt vor Frauen gibt. Der multikulturelle Mix an der Schule birgt Chancen und Risiken. Jugendliche haben ein Gespür für das, was grenzwertig ist. Sie haben es schon immer ausgetestet. Aber es wird zunehmend schwieriger, ihnen die Grenzen zu zeigen. Eltern, die sich eigentlich nicht für das schulische Vorwärtskommen interessieren, stehen auf der Schwelle, wenn man ihrem Kind eine deutliche Rückmeldung gibt.
Mosaikgesellschaft
In meiner Willkommensklasse ist das keine Seltenheit. Konsequentes Handeln, das Aufstellen und Befolgen der Regeln, ist eine klare Ansage. Und genau das führt zu Missverständnissen. Die Traumata der Flüchtlinge, das Mosaik der Kulturen werden zum Alptraum der Lehrer. Obwohl in den Herkunftsländern noch mit achtbarer Strenge unterrichtet wurde, fallen an unseren Schulen antisemitische und frauenfeindliche Äußerungen. Sexistische Sprüche an der Tafel geben Anlass zur Klarstellung, da steht schon wieder ein neuer Schüler vor der Tür. Er kommt aus Syrien, genaues weiß man nicht. Er spricht kein Wort Deutsch. Ich beginne wieder von vorne. Zeichensprache, erkläre das Alphabet, die Schüler helfen ihm dabei.
Orientierungshilfen
Unsere Gemeinde pflegt eine ausgesprochene Willkommenskultur. Deshalb habe ich den einen oder anderen freiwilligen Helfer, der nachmittags das Notwendigste an Deutsch vermitteln kann. Der neue Schüler scheint dort gut anzukommen, weil die Gruppe klein ist. In der Schule ist das nicht der Fall. Einige Schüler kommen regelmäßig, sind fleißig und lernfähig. Deshalb kommen sie auch gut voran. Andere kommen nur sporadisch, hinken im Stoff hinterher, sind müde und unmotiviert. Immer bei den letzten zu sein, ist kein Ansporn. Deshalb bleiben sie lieber zu Hause.“
Die Bildungsberichte der Kultusministerien zeigen hinsichtlich der Integration zielgerichteten Handlungsbedarf auf und bestärkten die Kultusministerkonferenz darin, weiterhin Maßnahmen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu ergreifen. Standards für die Lehrerbildung helfen uns nur wenig weiter. Die Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte zur interkulturellen Kompetenz sind nur ein kleiner Baustein, um die Bildungschancen zugewanderter Jugendlicher zu verbessern. Erfolgreiche Schule kann nur funktionieren, wenn die Lehrkräfte auch die Chance haben, sich Zeit für die Sorgen und Nöte der Kinder zu nehmen.
Weiterführende Quellen zu diesem Thema:
- beamten-infoportal.de: Integration droht zu scheitern — Lehrer fühlen sich mit Flüchtlingskindern alleingelassen
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